Am 26.01.2023 besuchte Herr Norbert Sachse, Vertreter des „DDR-Zeitzeugen“-Programms der Bundesregierung für Kultur und Medien, den Leistungskurs Geschichte der Jahrgangsstufe 2 des Leibniz-Gymnasium Östringens.
Nach einer kurzen Vorstellung Sachses als ehemaliger „Staatsfeind“ und Häftling der DDR, begann Sachse aus seinem Buch „Die Akte S. Fünf Jahre in den Mühlen des MfS“ vorzulesen. Das Buch behandelt das Schicksal des Zeitzeugens von seinen Anfängen als Systemkritiker des Sozialismus bis hin zu seinem Freikauf durch die Bundesrepublik und das Leben in Westdeutschland. Thematisch passend stellte Sachse den Ablauf seines ersten Hafttages im Jugendstrafvollzug mithilfe des Buches dar. Beschreibungen wie des ersten Kontakts mit Mithäftlingen, die wegen Gewaltdelikten, Vergewaltigung oder Mordes inhaftiert waren oder des ersten Kontakts mit der Hauptwache, in der das charakteristische Bild Sachses als wortgewandter Jugendlicher, dem auch despektierliche Ausdrücke leicht über die Lippen kamen, aufkam, folgten. Auch, wie Sachse sich nach einem Streich der Mithäftlinge mithilfe von Gewalt Respekt verschaffte, malte Sachse zum einen sehr persönlich, zum anderen in gewitzter Sprache aus, die den einen oder anderen Lacher bei den ZuhörerInnen auslöste.
Danach holte Sachse aus und erzählte, wie es überhaupt zu seiner Verhaftung kam. Nachdem der in einem stark kommunistisch geprägten Elternhaus aufgewachsene Zeitzeuge zunächst die Werte und Ansichten des DDR-Regimes stolz vertrat, änderte sich seine Meinung nach und nach durch den Einmarsch von Truppen der Sowjetunion in die Tschechoslowakei (Niederschlagung des Prager Frühlings 1968) und durch das Hören von „verbotenem West-Radiosendern, wie dem BR oder der BBC“, in dem ein ganz anderes Bild der DDR vermittelt wurde, als in den Medien der DDR. Schon bald begann der Minderjährige das Staatszeichen der DDR auf Polizeifahrzeugen unkenntlich zu machen. Großes Vorbild war laut Sachse Oskar Büsewitz, der sich aus Protest gegen die DDR in Berlin öffentlich mit Benzin übergossen und verbrannt hatte. Nach dem Verteilen von staatskritischen Flugblättern wurde Sachse wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verhaftet. Während seiner Haftzeit lernte Sachse unterschiedliche Gefängnisse der DDR und ihr radikales Vorgehen gegen „Staatsfeinde“ kennen. Auch, dass der Anwalt Sachses aus „Angst er könnte ja seinen Job verlieren“ nicht seine Verteidigungsrolle ausübte, ließ Sachse nicht aus.
Aus größter Verzweiflung, da Sachse keine Zukunft für sich in der DDR sah, und eine Ausreise in den Westen für sehr unwahrscheinlich hielt, eiferte der Zeitzeuge seinem Vorbild Büsewitz nach und setzte sich ebenfalls öffentlich auf dem Berliner Alexanderplatz in Brand. Nach erneuter Haft in einer Haftpsychiatrie, die Sachse wiederholt sehr lebhaft beschrieb, da er sich dort Fragen wie „Was würden Sie machen, wenn Ihnen im Wald ein U-Boot begegnen würde?“ stellen musste, gelang es Sachse schließlich, durch einen Freikauf der Bundesrepublik in den Westen zu kommen. Dort angekommen, war das erste, das Sachse auf Nachfrage wahrnahm, „ein kühles Bier“. Dies spielte auf die Mangelwirtschaft der DDR an, die Sachse ebenfalls ausführlich erläuterte. Dank illegaler Schallplattenverkäufe sparte sich Sachse ein Vermögen von 50.000 € an. Das Problem: „Das Geld hat man nicht ausgeben können. Es gab ja nichts, das man kaufen konnte.“
Nach dieser ausführlichen Lebenswegbeschreibung war es dem Leistungskurs möglich, Fragen an Herrn Sachse zu stellen. Diese wurden zuvor im Unterricht vorbereitet und deckten unterschiedliche Bereiche von persönlichen Fragen des Alltags, Fragen zum Staat der DDR, wirtschaftliche Fragen und auch Fragen über die Erfahrungen Sachses in Westdeutschland, ab.
So erfuhr der Leistungskurs beispielsweise, dass laut Sachse nicht die DDR an den Missständen der Bevölkerung, sondern vielmehr das System des Sozialismus an sich an den Lebensbedingungen in der DDR schuld gewesen sei. Denn auch heutige sozialistische Staaten hätten ähnliche Probleme wie die DDR.
Auch zog Sachse Parallelen zwischen dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und dem Einmarsch der SU in die Tschechoslowakei.
Darüber hinaus bereue Sachse keine seiner Taten in der DDR. Alles sei dem Ziel, in den Westen auswandern zu können, gewidmet gewesen. Alle seine Wünsche hätten sich in der Bundesrepublik erfüllt. Er war bis zu seiner Pensionierung selbstständig, habe alle Freiheiten gehabt und zwei wundervolle Töchter bekommen. Zu seiner Familie, in der sein Vater bis zuletzt die DDR verteidigt habe, habe Sachse ein zwiegespaltenes Verhältnis gehabt. Seine Schwester, die zunächst treues Parteimitglied der SED war, verließ die SED in den 80er Jahren und verlor aufgrund dessen ihre Arbeit. Heute habe Sachse ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Schwester, die als Künstlerin um die Welt reise.
Sein Vater trat nach der Auflösung der SED sofort wieder in die PDS, die Partei des Demokratischen Sozialismus, ein, verheimlichte dies seinem Sohn allerdings bis zu seinem Tod.
Auch stellte Sachse die gravierenden Unterschiede zwischen dem Schulsystem der DDR und der Bundesrepublik dar. In der DDR habe man bereits in der Grundschule „die Hände auf den Rücken halten müssen“ und diese nur zum Melden vorziehen dürfen. Die LehrerInnen seien darüber hinaus ständig unter der Ideologie der SED gestanden und angehalten gewesen, die Ideen dieser möglichst einprägend zu vermitteln. In der Bundesrepublik sei die Schule sehr viel „lockerer“ gewesen, auch das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern.
Der Besuch Norbert Sachses war sehr einprägend und interessant für die SchülerInnen des Leistungskurses. Sowohl seine Vortragsweise, die wiederholt durch persönliche Anekdoten aufgelockert wurde, als auch die präzisen Antworten auf gestellte Fragen, waren ausschlaggebend für den erfolgreichen Besuch.
An dieser Stelle ein ganz großes Dankeschön an Norbert Sachse, der seine besondere Lebensgeschichte mit dem Leistungskurs Geschichte geteilt hat. Ein ebenfalls großer Dank geht an Frau Neumann, die den Besuch im Unterricht inhaltlich intensiv vorbereitete, und an Frau Hinz , die als „Respect Coach“ am LGÖ den Besuch mitorganisierte. Das Bundesprogramm „Respect Coach“ wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert.